Willkommen im 51. Staat: Justin Sullivans New Model Army ermahnt uns im Backstage

25.10.2019 Backstage München

New Model Army

Er ist (immer noch) unterwegs und mindestens noch genauso mahnend wie früher: Justin Sullivan liest uns mit seiner New Model Army immer noch gehörig die Leviten. Das ließen wir uns natürlich nicht entgehen – und mit uns auch zahlreiche andere arme Sünder.

Da steht er also, zottelig wie immer, aber irgendwie auch gar nicht verändert, mit grobem Schuhwerk, wehenden Haaren und einer Zahnreihe, die das traurige Lied des englischen Krankheitsverwaltungsdienstes namens NHS seit Jahrzehnten kündet. Und natürlich kommt er nicht ohne einen Kommentar auf die Groteske aus, mit denen sich seine Landsleute seit Jahren unermüdlich befassen und die die komplette Verwirrung eines ganzen Landes zeigt: „I’m not going to bore you all night with Brexit, but I’m going to play you this!“ Und dann gibt es im rappelvollen Backstage den ersten allgemeinen Hüpfalarm, denn das alte Schlachtross vom „51st State“ (of America) kennt denn nun wirklich jeder (sogar Besucher obskurer Jugendclubräume im hessischen Niemandsland, aber das ist ein anderes Lied von Herrn Sullivan, das heute Abend nicht drankommt). Es ist schon bemerkenswert, mit wie viel Druck, Schmiss und Freude das alles heute dargeboten wird – immerhin liegen die wirklichen Glanzzeiten dieses Kollegen doch schon ein paar Tage zurück. Genauer gesagt in den späten 80ern, als wir in unserer verwirrten Jugendzeit gerne auch einmal einem kritischen Geist frönten, der als Kind der Thatcher-Jahre erst einmal alles eher negativ sah und seine Kombo deshalb fröhlich nach Oliver Cromwells Armee benannte, der ja nicht wenigen als Retter der Enterbten scheint. Irgendwann in den düsteren 90ern verloren wir ihn dann allerdings aus den Augen, auch seine akustische Gitarre ging wohl irgendwie im Grunge-Geschrammel unter. Umso überraschender dann, dass er a) unsere kleine Stadt beehrt und b) diese Ansetzung auch noch ausverkauft ist. Das liegt wohl in nicht geringem Maße an der neuen Scheibe „From Here“, die man in der Warteschlange vor dem Kassenhäuschen durchaus hochleben lässt – was allerdings nichts daran ändert, dass die Schlachtenbummler definitiv allesamt auch damals schon dabei waren, als Herr Sullivan seine Klassiker wie „Thunder And Consolation“ oder „The Ghost Of Cain“ fabrizierte. Genererationensprung somit Fehlanzeige, aber das macht gar nichts, wir freuen uns daran, dass selbstverständlich wir als Einzige nicht älter geworden sind und platzieren uns am gewohnten Standort.

Dort beobachten wir dann zunächst für eine halbe Stunde das Treiben einer deutschen Kombo, die sich als Helga Pictures vorstellt und die auskunftsgemäß schon in den 80ern mit Herrn Sullivan die Bühne teilte. Wir glauben das mal und notieren, dass Nummern wie „The Elixir“ oder „Don’t Let Go“ illustrieren, wie ein gut gemeinter Versuch aussieht, einen Independent Sound aus deutschen Landen zu kreieren.

Aber natürlich sind wir wegen Herrn Sullivan hier, der alsbald mit seinen aktuellen Mitstreitern die Bühne beschreitet. Dass er sich kaum verändert hat, das haben wir schon festgestellt – anscheinend konserviert das englische Klima eben doch, sinnieren wir kurz, als er mit „No Rest For The Wicked“ gleich mal ein Stück aus der Anfangszeit als Opener hervorholt. Das klingt kompakt, heftig und genauso leicht sperrig, wie wir das von der gleichnamigen frühen Platte kannten, und die stattliche Menge goutiert das von Anfang an begeistert. Wenig überraschenderweise besteht die Formation nicht mehr aus den Protagonisten, die wir in den frühen 90ern erlebten, mit Peter Nice am Bass und Robert Heaton am Schlagzeug, dann lange Jahre ergänzt durch Ed Alleyne-Johnson an der Violine – heute sind das alles uns unbekannte Herrschaften, aber wir konzentrieren uns ohnehin auf den Cheffe, der da in der Mitte steht und jetzt mit „Never Arriving“ und „The Weather“ (letzteres an der akustischen Sportguitarre) gleich zwei Nummern vom aktuellen Album hinterherschiebt.

Das ist stilistischen exakt in der gewohnten Ausrichtung und kommt gut an, aber noch mehr erfreuen wir uns natürlich an den Stücken, die wir irgendwie schon mal gehört haben und bei denen wir dann den Refrain doch wieder erinnern – so wie etwa das jetzt folgende „The Charge“ vom Meilenstein „Thunder And Consolation“. Nach „Watch And Learn“ (nie gehört) folgt das eingangs thematisierte „51st State“, dessen antiamerikanistische Tendenz in Zeiten eines Donald Trumpf vielleicht noch relevanter scheinen mag als zur Reagan-Ära, was aber angesichts der innenpolitischen Kapriolen des Herren, der offenkundig den gleichen Coiffeur besucht wie sein amerikanischer Amtskollege schon fast verblasst. Rein thematisch, musikalisch zündet das Stück massiv, und erst im Nachgang notieren wir erstaunt, dass das ja wohl ein Cover war, das 1979 schon von einer britischen Kombo namens The Shakes ersonnen wurde, aber erst in der Fassung von Herrn Sullivan zum Szene-Hit avancierte. Ist ja auch egal. „Believe It“ (von „The Love Of Hopeless Causes“) sorgt dann erneut für Mitsing-Alarm, bevor dann beim Titeltrack der neuen Scheibe wie auch folgenden, ebenfalls aktuellen „Where I Am“ eher andächtiges Zuhören angesagt ist. „We’ll play you a surf song!“, sagt er nun spaßig „Wipe Out“ an, bevor es ein wenig in die Geschichte geht: „You know, it has been 39 years of New Model Army – so next year is our 40th anniversary!“ Wir hoffen mal, dass wir nächstes Jahr dann alle dabei sind, auch wenn die Bandgründung, so berichtet der gute Mann, wohl eher zufällig zustande kam. Wenn er in Interviews machmal gefragt wird, ob die heutige Zeit mit der damaligen Atmosphäre vergleichbar sei, so erzählt er noch, dann antwortet er stets: „I say this time is not like those days, but this time is a result of these days!“ Darüber denken wir dann doch mal nach – Isolationismus und Schwelgen in längst vergangener vermeintlicher Kolonialgröße sind eben wohl nicht nur ein Phänomen der englischen Gegenwart.

Nach dem ebenfalls neuen „End Of Days“ kommt dann endlich die Abrissbirne, auf die nicht wenige hier warten: „Here Comes The War“ rechnet wieder mit den Machtmechanismen ab, die zeitlos für alle Konflikte herhalten müssen (dass vermutlich mindestens die Hälfte der Zuschauer in genau jenen Branchen aktiv ist, die der Mann hier kritisiert, lassen wir mal außen vor) – und ganz nebenbei zerlegt der Song das Backstage Werk ganz massiv. Mit jeder Menge Bewegung im Pit, wo man die Art zurückhaltendem Moshing aufführt, was eben zum Indie-Rock gehört. Was eine Attacke! Jetzt packt er dann doch nochmal die Sportguitarre aus und liefert dann noch die wunderbare „Ballad Of Bodmin Pill“, wo ich wiederum bis zum Refrain brauche, um den Song wieder als einen meinen absoluten Favoriten aus der alten Phase zu erkennen. Wunderber läuft auch „Autumn“ mit der schönen Zeile „everything is beautiful“ rein – und jetzt versucht er sich dann aber wirklich zu verabschieden. Wir gehen davon aus, dass die Sache ein Bewenden hat, geben schon mal unsere Becherchen zurück – nur um festzustellen, dass er doch noch ein As im Ärmel hat. Flugs nochmal nach vorne gehechtet, wo dann noch ein echtes Glanzlicht lauert: „I Love the World“ räumt derartig ab, als sei „Thunder And Consolation“ erst gestern erschienen. Dann ists aber endgültig aus, Herr Sullivan verabschiedet sich artig, und wir marschieren aus der Dampfhitze, die der Kollege als „swimming pool“ bezeichnet hat, in die kühle Herbstluft. Wir konstatieren begeistert, dass der Indie-Sound irgendwie unverwüstlich ist und der gute Justin noch jede Menge zu sagen hat. Gut so.