Original mit Untertiteln: Bruce Springsteen schüttelt Hände im Wanderzirkus

23.07.2023 Olympiastadion München

Macht er’s nochmal? Und wenn ja, wie lange müssen wir danach wieder warten? Das ist die entscheidende, bange Frage bei jeder Gastspielreise des Herrn aus New Jersey, der gemeinhin als Boss bekannt ist. Zuletzt beehrte er uns 2016 - da lassen wir natürlich überhaupt keinen Zweifel aufkommen und pilgern los.  

Die vielleicht erstaunlichste Information erhalten wir beim kleinen Vortrag, den der Geschäftsführer beim nachdenklichen „Last Man Standing“ hält, bei dem er bekanntlich darüber sinniert, dass er der letzte verbleibende Vertreter jener ersten Kombo ist, der er jemals angehörte: Bruce Springsteen ist ganze 54 Jahre alt.  Irgendwie klar, immerhin spielte er drei Jahre bei den Castiles und dann „fifty years E Street Band – so this means I am only 54!“ Genauso tritt er auch auf heute Abend, mit einer stimmlichen Gewalt und körperlichen Präsenz, die jeden Lügen strafen, der behauptet, dieser Schwerstarbeiter des Rock sei wirklich 73 Jahre alt. Vollkommen absurd. Wo wir gerade bei Absurditäten sind: auch der Einlass gestaltet sich heute durchaus, sagen wir mal kurios. Nachdem wir immer noch der Fraktion angehören, die das Front of Stage-Gebaren nicht goutiert, sondern basisdemokratisch eben da steht, wo man landet, sind wir ausreichend früh vor Ort, um zu den ersten zu gehören, denen man Zutritt zum Stadion gewährt. Das allerdings gestaltet sich, als ob wir der personifizierte schwarze Block voller Hooligans wären: in einem äußerst militanten Ton werden wir informiert, dass man uns langsam die Treppe hinabgeleitet, was dann ein ganzer Kordon von Sicherheitspersonal auch tut. Auch auf dem Fußmarsch vorne zur Absperrung begleitet man uns mit Argusaugen, und jeder, der auch nur versucht, aus der Reihe zu tanzen oder gar zu rennen, wird aufs Wüsteste beschimpft. Leute! Das ist nicht der letzte Marsch nach Alcatraz, das ist ein fröhliches Fest für die ganze Familie! Das seltsame Prozedere wiederholt sich exakt noch ein Mal, dann scheinen zumindest die brandgefährlichsten Randalierer durch, und die weiteren Ankömmlinge dürfen unbehelligt hereinspazieren. Zumindest ist so niemand durch die immer wieder vorkommenden Treppenstürze verletzt worden, zu denen es bei Springsteen-Konzerten offenbar seit Jahren immer wieder kommt…NOT. Nun denn, wir nehmen unseren Platz ein, danken der Sonne, dass sie sich hinter eine Wolkendecke verzieht und harren der Dinge, die da kommen. Die Bühne ist wie immer beim Cheffe weitgehend schmucklos und auf das Wesentliche, nämlich die Instrumentierung, konzentriert. Nachdem die Unsitte der Vorgruppen hier nach wie vor nicht gepflegt wird, geht dann kurz vor 7 das obligatorische Raunen und Jubeln durch die Menge: der einzige Moment, in dem man von den Rängen einen optischen Vorteil genießt, geschieht beim Einzug der Gladiolen, wenn die Recken hinter Bühne aufmarschieren. Ab dann sind aber wir bevorzugt: der gewaltige Tross wandert eins nach dem anderen auf die Bretter, die Truppe scheint gar nicht mehr aufzuhören, bis am Ende zwanzig Personen die Bühne bevölkern und natürlich zu guter Letzt der Meister selbst emporsteigt. Mit einem beherzten „Grüß Gott!“ bringt er im Handstreich das gesamte Stadion auf seine Seite, das mittlerweile bis in den letzten Winkel gefüllt ist. Dann geht die bunte Reise los, den Einstieg markiert ein wuchtiges „No Surrender“, wobei sich sofort diese besondere Atmosphäre einstellt, die nur er hervorzaubert: von der ersten Sekunde an ist die Menge da und elektrisiert, Generationsübergreifend wird gehüpft, geklatscht und überraschend textsicher gesungen.

Zu einem mächtig drückenden und angenehm gitarrenlastigen Sound ballert sich die elektrische Straßenband quasi ohne Unterbrechung durch die ersten sieben Nummern, keine Atempause, Rockmusik wird gemacht: „Ghosts“ vom brillanten „Letter To You“-Album, danach „one two three“, direkter Übergang zu „Prove It All Night“, so schwingen sie sich durch die Klassiker, bevor dann mit dem Titeltrack wieder der „Letter To You“ zum Zuge kommt – und durch eingeblendete deutsche Titel auf den drei kolossalen Leinwänden der Inhalt auch denjenigen nahegebracht wird, die des Englischen oder vielmehr Amerikanischen nicht in Gänze mächtig sind. Quasi wie im Kino oder Fernsehen die lieben OmU-Fassungen, Original mit Untertiteln. Wir hoffen, dass er bei der nächsten Ansetzung in Monza (Italien) die sprachlich passende Fassung dabei hat. Während „The Promised Land“ angestimmt wird, notieren wir gerne, dass „Little“ Steven van Zandt offenkundig das hiesige Jubiläum 40 Jahre Monaco Franze mitfeiert und vollends die Metamorphose zum Herrn der sieben Meere vollzogen hat, mit Piratenkopftuch, Säbelohrringen und einer Gitarre in Ukraine-Farben. Sein Kollege Nils Lofgren hingegen scheint arg an der Garderobe sparen zu müssen, anders ist der zusammengetackerte Hut nicht zu erklären – oder er will einfach ein bisschen Keith Richards sein. Egal, der Sound, den die Herren aus den Guitarren zaubern, ist unvergleichlich, und der Chef selbst malträtiert seine eigene Telecaster wie eh und je – entsprechend ramponiert sieht das gute Teil mittlerweile aus, funktioniert aber noch bestens. Die Mundharmonika, die er bei diesem Stück spielt, überreicht er im Anschluss einem glücklichen Kind im Publikum, eine Kontaktfreude, die sich im Verlauf des Konzerts fortsetzen soll. „1 – 2 – 3“ geht’s weiter einem schwungvollen „Out On The Streets“, das in epischer Breite die E-Street-Bande als Wanderzirkus präsentiert, in der Schlagwerker Max Weinberg als immer gleich aussehender Al Pacino Lookalike das Zentrum bildet und die Zauberer Zandt und Lofgren mit bunten Tüchern und Tanzfiguren die Manege aufmischen. Onkel Bruce wandert indessen weiter gerne in die Menge ganz vorne, schüttelt Hände, nimmt Stofftiere entgegen und überreicht aus einem augenscheinlich magisch aufgefüllten unerschöpflichen Fundus in der Tasche seiner Arbeiterhose Gitarrenplektren, wobei immer wieder die besonders jungen Besucher bedacht werden. Das ist nett und sicherlich auch – ein Zirkusartist, der Böses dabei denkt – eine Motivation, die preislich nicht ganz anspruchslosen Front Of Stage 1-Tickets zu lösen. Nach diesem fast schon atemlosen Aufgalopp biegen wir in eine gänzlich andere Richtung ab, „Kitty’s Back“ vom noch Orientierung suchenden frühen Album „The Wild, The Innovent and The E Street Shuffle“ gerät zur jazzigen Spielwiese der Bläserfraktion und leicht dudliger Gitarren-Klangkollage, die gehörig Geschwindigkeit herausnimmt. Auch wenn er stolz ein Schild mit der Behauptung „Horns Rock!“ in die Kamera hält – wir stimmen da nicht ganz überein, und auch das folgende Commodores-Cover „Nightshift“ gehört sicherlich nicht zum essentiellen Kanon. Daher schauen wir ein bisschen im Publikum umher und entdecken doch tatsächlich drei Kuttenträger, die sich sicherlich im Konzert geirrt haben: der andere Bruce, der mit Iron Maiden, der spielt erst nächst Woche, Freunde! Anstelle von „Mary’s Place“, das auf unserer Setlist steht, geht es nun weiter mit „Trapped“, dem Jimmy Cliff-Song aus den 70ern, den der Meister Anfang der 80er auf der „The River“-Tour vom ursprünglichen Reggae-Sound zu einem Rocksong ummodelte und auch auf der „Born in the USA“-Tour noch im Liveset hatte – woher dann auch die Fassung vom “We Are The World”-Album (ja, das gab’s) stammt, die wir kennen. Dann ist wieder der ultimative Rock’n’Roll-Zirkus angesagt, „Johnny 99“ von „Nebraska“ mutiert zum voll instrumentierten Rocker, bei dem alle irgendwie nur Spaß haben. Damit hat die Feelgood-Party dann aber auch ein Ende: die melancholische Moritat der erkaltenden Liebe und des enttäuschten Lebens schlechthin, „The River“, erweist sich auch heute wieder als vollkommen unzweifelhaft bester Song aller Zeiten, dessen tiefer Traurigkeit man sich nicht entziehen kann. Nun schwenkt er in seine Rede ein, die wir eingangs schon erwähnten, über seine ersten musikalischen Gehversuche bei den Castiles, die er allesamt überlebt hat und als „Last Man Standing“, den er wirkungsvoll reduziert nur mit Gitarre und Trompete darbietet, nun übrig ist. Wieder versehen mit deutschen Untertiteln, mahnt er uns wie weiland John Keating seinen Club der toten Dichter: „seize the day“, nutzet den Tag, Jungs, „be good to yourself, to your loved ones and the world“. Wenn das alle beherzigen, kann das nur helfen. In die gleiche emotionale Kerbe schlägt dann das Epos der „Backstreets“, bei dem er von vergangener Freundschaft erzählt, von längst von uns Gegangenen, deren Platten, Bücher und Gitarre er getreulich bewahrt, wie auch die Erinnerung „right here, until the end“ in ihm leben wird.

Das ist das Besondere an Springsteen: er schafft es, den Eindruck zu erwecken, er singe heute nur für jeden Einzelnen hier, kennt die Sorgen und Nöte aller, auch wenn er mit Privatjet und Gestüt so weit entfernt vom working man ist wie nur irgendwie möglich. Aber das wirkt authentisch, in keiner Sekunde gespielt und deswegen so packend. „Because the Night“ gerät zum Showcase für Nils Lofgren, der als Gitarrenderwisch umherwirbelt wie Angus Young persönlich, „She’s The One“ zündet bestens, und auch der wunderbar trotzige Abgesang auf das New York Giants-Stadion „Wrecking Ball“ begeistert die Massen, die spätestens jetzt auch auf den Rängen ordentlich in Wallung geraten. Die Hymne vom Aufstehen „The Rising“ nehmen wir ebenfalls sehr gerne, bevor dann „Badlands“ das Olympiastadion endgültig in eine Hüpfburg verwandelt. Artig verabschiedet man sich schon einmal – und das wunderbare „Thunder Road“, auf das wir doch eigentlich gewartet hatten, kommt heute offenbar nicht zum Zuge. Schade! Dafür gibt’s wieder keine große Pause, wir müssen nicht ewig „Zugabe“ oder sonst was rufen. Nein, der Boss schaltet jetzt einfach mal das Licht im Zimmer an, das ganze Stadion wird hell erleuchtet, und die Leinwände zaubern eindrucksvolle Bilder vom wogenden Menschenmeer. Grandios! Das auf Langrille eher zähe „Glory Days“ eignet sich wieder als ultimative Mitsing-Nummer (deutsche Titel würden hier unterstreichen, dass es eigentlich eben gar nicht um ruhmreiche Tage geht, sondern darum, dass ein paar Gescheiterte in der Vergangenheit leben), Bruce befragt erst Steven und dann uns „who wants to go home?“ (natürlich niemand), und dann kommt sogar die ewige Hitsingle „Dancing In The Dark“ zu Ehren, die seinerzeit auf dem Live-Kompendium kurioserweise fehlte. Bruce sprengt publikumswirksam sein Hemd, ein emsiges kleines Mädchen bekommt erst ein Autogramm aufs T-Shirt und dann eine lange Umarmung – diese Form der Kundenbindung kann sonst niemand so sympathisch und begeisternd. „Tenth Avenue Freeze Out“ ist musikalisch wie immer entbehrlich, aber als bildgewaltige Hommage an den 2011 verschiedenen „Big Man“ Clarence Clemons – dessen Neffe wieder zuverlässig die Saxophon-Dienste versieht – eindrucksvoll, wobei auch ein Bild des bereits 2008 verstorbenen ehemaligen Mitstreiters Danny Federici mit vorbeihuscht. Eigentlich ist alles vorbei, Bruce erklärt uns wortgewaltig „you have just seen the earthshaking, Viagra taking“ E Street-Band, die zwanzig Musikanten auf der Bühne werden einzeln vorgestellt und vom Chef verabschiedet, der sich am Ende ein Wechselspiel von „Munich – Bruce“ gönnt – und dann noch einmal auf gänzlich dunkler Bühne zurückkommt. Nachdenklich, nur mit Gitarre und Harmonika, trägt er uns dann noch „I’ll See You In My Dreams“ vor. Was wir nicht allzu wörtlich nehmen wollen. Immerhin wollen wir ihn noch mindestens einmal auf der Bühne sehen. Mindestens. Oder öfter. Am besten jedes Jahr.