Rückengymnastik und ein Rumpelstilzchen: wir tur(u)nen mit Tarja und Marco

24.09.2024 Backstage München
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Living the Dream! Unter diesem Motto nimmt die frühere Nightwish-Frontelfe Tarja Turunen doch einfach ihren früheren Bandkollegen Marco Hietala Huckepack und reist mit einem Rückblick über ihr reichhaltiges Schaffen durch die Lande. Bei diesen Leibesübungen machen wir doch gerne mit.

Unumwunden gibt Psychologe Sebbes gegen Ende zu, er habe richtiggehend Angst gehabt vor der Ansetzung. Immerhin klingt das Material, das Tarja Turunen auf Solopfaden fabriziert, auf Konserve sagen wir mal nicht immer geradlinig und eingängig. Aber in der Kombination mit dem alten Weggefährten Marco wirft sie dann doch immer wieder auch schmissiges Liedgut unter die Leute, wie etwa das fesche „Lost on Mars“, was dazu beitrug, das emotionale Unwohlsein doch noch zu überwinden. Schwierig dann also, dass der gute Marco auf dem Weg offenbar von Krankheit geschlagen wurde und bei den vorigen Einsätzen in Frankfurt und Neutraubling nur sehr eingeschränkt ins Geschehen eingreifen konnte. Wir sind dennoch frohen Mutes und laufen (nach erneuter zauberhaftiger Parkierung, man könnte sich glatt daran gewöhnen, und das während der Wiesn-Zeit!) halbwegs rechtzeitig ins gut gefüllte weite Rund des Backstage Werks ein.

Dort informiert man uns zuerst, dass die Vorkombo Chaoseum ihre Arbeit schon verrichtet hat und am Merch-Stand ausharrt. Da fragen wir uns doch, warum auf der Bühne immer noch zwei Schlagzeuge rumstehen, was um 19:51 dann beantwortet wird: nach einem elektrischen Intro marschieren drei lustige Gesellen auf die Bühne, am Schlagwerk nimmt ein entfernter Cousin von ZZ Top Platz – und dann schlendert ein drolliger Herr einher, der sich zwar redlich bemüht, auszusehen wie Catweazle (die Fernsehfreunde der 70ern erinnern sich, adelmei kadelmei!), aber dennoch eindeutig als Marco Hietala zu erkennen ist. Was ganz nebenbei die Angstzustände meines Mitstreiters im Handstreich verfliegen lässt: er ist hier, er ist fit und extrem gut aufgelegt. Der Herr, der Nightwish lange Jahre seinen Stempel aufdrückte, präsentiert seinen sehr eingängigen Hard Rock mit Gusto. Nummern wie „Star, Sand And Shadow“ und „Dead God’s Son“ laufen bestens rein, und Marco zeigt sich als sympathische Plaudertasche, der redet wie ein Wasserfall. Dabei hat es doch durchaus einen ernsthaften Hintergrund, dass er uns berichtet, dass er das Trinken aufgegeben hat: „I quit while I was on top! It’s better for me and for you. I never knew that quitting drinking was social charity work…” Nach einigen finnischen und proggigen Ausflügen, die auch Freude machen, gibt es natürlich auch die aktuelle Single, „a steampunk fantasy about cheating death“: „Frankenstein’s Wife“ macht Laune, bevor er dann zu „Lost on Mars“ mit besten Led Zeppelin-Kashmir-Vibes die Gastgeberin auf die Bühne holt – gemeinsam mit Tarja schmettert er das Stück mit Verve. Man versichert gemeinsam noch, wie schön es doch in München sei, Tarja ruft uns in passablem Deutsch zu „Wir sehen uns später!“, was wir doch hoffen, bevor Marco uns mit einem politisch passenden Coversong ins weitere Geschehen entlässt – gewidmet den diversen Kriegstreibern der Welt, hauen sie uns eine ordentliche Fassung des Sabbath-Klassikers „War Pigs“ um die Ohren, dann ist Feierabend.

Die Umbaupause zieht sich dann ein wenig, eine Technik-Dame absolviert in diesem Kontext offenbar die Meisterprüfung zur fachgerechten Ventilatorausrichtung (ein viel zu wenig beachteter Ausbildungszweig!), bis dann um Schlag 21:30 die Sause in die Hauptrunde geht. Die Kombo von Frau Turunen spaziert herein, Schlagwerker und Gitarrero frequentieren offenbar den gleiche Optiker, aber die Balldame des Abends bildet natürlich den Mittepunkt: Tarja absolviert den Opener „Eye Of The Storm“ in der einzig wahren Farbe Schwarz (was natürlich im engeren Sinne keine Farbe ist, aber das ist unnützes Partywissen, mit dem uns Physiker gerne langweilen, viel wichtiger ist, dass es bei Henry Ford nichts anderes gab), mit Wallemantel und massivem Schuhwerk, das offenkundig aus einem Rokoko-Museum entwendet ist, als die feine Gesellschaft mit Monsterabsätzen dem Straßenschmutz wehrte, wie Kulturhistoriker Sebbes kundig feststellt. Tarja zeigt sich entzückt, „München! It’s always beautiful here!“, was wir mal auf uns beziehen und so stehen lassen. Ganz im Geiste von Dieter Thomas Hecks Hitparade reicht man einen Blumenbukett empor, weiter im Text geht’s mit „Demons in You“, wobei die launigen Grunzteile, die im Studio die blaue Alissa erledigt hat, leider entfallen müssen.

Sei’s drum, wir stellen fest, dass das Material samt und sonders geschmeidig läuft und auch in der Menge formidabel ankommt. Das sehr epische „Falling Awake“ gefällt uns ebenso wie „Die Alive“, das Tarja inhaltlich einordnet – das Leben ist kurz, man solle doch das Hier und Jetzt wahrnehmen und die wirklich wichtigen Dinge wie die Lieben in den Mittelpunkt stellen. Das machen wir doch gerne, aber auch die Gesundheit wollen wir nicht vergessen, und hierbei hilft uns die Dame sehr tatkräftig: immer wieder rudert sie mit den Armen, steht auf einem Bein, animiert zum Mitmischen: ganz nebenbei belegen wir offenkundig einen Kurs in Bandscheiben-Entlastung, den wir doch gerne mitmachen. Wir sind ja nicht mehr die Jüngsten, und die Stühle (die z.B. Anneke ja dabei hatte) hat man auch heute wieder vergessen aufzustellen. Nach dem sehr elegischen „I Feel Immortal“ klettert unsere Übungsleiterin nun hinter das neben dem Drumkit platzierte Keyboard und berichtet, dass sie äusserst dankbar ist, dass sie gemeinsam und dank uns ihren Traum leben darf, wobei sich sogar ein kleiner Freudscher Einschub einschleicht: „When I was young I had a dream – oh, this is like in my ex-Band, Once, I had a dream, and this is it!“, was wir als wahre Ventilatoren natürlich mühelos als Anspielung auf das Intro der sagenhaften „Dark Chest Of Wonders“ vom letzten Nightwish-Album mit Tarja-Beteiligung „Once“ entschlüsseln. Das nun folgende „Oasis“ offeriert getragen den ersten Song aus eigener Turunen-Feder, worauf sich dann ein krachiges „Shadow Play“ anschließt. Das nutzt die Kombo dann gegen Ende zu einer ausgedehnten Solo-Einlage (miteindrucksvollem Bass-Gezupfe, Hut ab!), die wiederum Frau Turunen dazu dient, das Beinkleid zu wechseln: etwas leichter bekleidet springt sie wieder hervor und kündigt nun an, dass auf der Bühne doch noch jemand fehle. Das stimmt, wir begrüßen gerne den guten Marco wieder auf den Brettern, der nach wie vor im schmucken Rock agiert und als erste Kollaboration ein schweres „Dark Star“ zum Besten gibt, das sich im Original auf der Tarja-Scheibe „What Lies Beneath“ findet. Die Sporteinheiten werden nun breiter gelagert, Tarja zeigt uns weiter ihre Dehnübungen, während Marco gewitzt grinsend ein Rumpelstilzchen-Tänzchen aufführt und sich dabei wahrscheinlich denkt: ach wie gut dass niemand weiß, dass ich Hietala heiß! Was offenbar stimmt, da die Menge beherzt nur seinen Vornamen ruft, was ihn aber sichtlich erfreut.

Die Zusammenarbeit setzt sich fort mit „Dead Promises“, bevor man dann mit dem auf Platte doch eher sperrigen „Planet Hell“ die erste gemeinsame Nightwish-Nummer aufs Tapet bringt, die hier und heute überraschend gut zündet. Bei zeigen sich bestens bei Stimme, Tarja hat die Sache ja bekanntlich gelernt, und auch Marco scheint seine Erkältung vollends hinter sich gelassen zu haben. Nun entlässt sie den Mitstreiter wieder, „but not for long, don’t go far!“, was Marco mit der Aussage quittiert, er habe hier offenbar eine Fußfessel an – „who knows where I might end up otherwise!“ Mit dem durchaus zauberhaften „I Walk Alone“ (vom Tarja-Erstling) und einem groovenden „Victim of Rituals“ biegen sie dann schon auf die Zielgerade ein. Man zieht sich kurz zurück, aber natürlich gibt es noch einen Nachschlag: zu „Innocence“ kehren sie wieder, Tarja hat sich nun einen Glitzerfummel übergeworfen, aber jetzt muss Marco nochmal ran: zum Duett „I Wish I Had An Angel“ geht die Meute vollends steil und zeigt, wie genial die damaligen Nightwish-Stücke immer noch sind. Marco zieht nun endgültig den Hut, Tarja lässt noch ein beherztes „Until My Last Breath“ auf uns los und sichert uns zu: „This was wonderful! I hope to see all of you again soon!“ Das glauben wir gerne. Auf dem Heimweg sinnieren wir noch kurz darüber, dass vielleicht unser Soundsystem kaputt war, weil die Stücke live so viel besser klangen, und beobachten einen tatkräftigen Wiesn-Heimkehrer noch bei der schweren Aufgabe, eine Bushaltestelle durch gezieltes Festhalten vor dem unweigerlich drohenden Einsturz zu bewahren. Oder vielleicht war das auch umgekehrt. Egal, das muss ja immerhin auch einer machen.