Schlitz im Kleid, wunderbar: wir staunen mit Within Temptation, Annisokay und Blind8
/19.10.2024 Zenith München
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Bleed Out 2024 – unter diesem Motto rollte der symphonische Metal-Tross um die göttliche Sharon den Adel auch bei uns vorbei. Wir kamen, sahen, staunten und waren (natürlich wieder) begeistert.
Die versierte Bombast-Metal-Frontfrau, so dürfen wir anerkennend feststellen, braucht Outfit-seitig drei Dinge: ein rauschendes Ballkleid, dem ein ordentlicher Schlitz zur besseren Beweglichkeit zugefügt ist (den ja schon Ingrid Steeger ganz wunderbar fand, die älteren Fernsehfreunde erinnern sich), sicheres Schuhwerk (man könnte ausgleiten) und diverse Vorsichtsmaßnahmen wie Radlerhose und Harnisch, damit es nicht zu dem kommt, was die amerikanische Entertainment-Community vielsagend als „wardrobe malfunction“ bezeichnet. All das beherrscht Sharon den Adel, das heute gewählte weinrote Modell erstrahlt betörend, die Schuhe sitzen bestens, und auch der Rest wird professionell gehandhabt, wenn die Dame sich wahlweise im Ausdruckstanz schlängelt oder ordentlich mitmosht. So kennen und schätzen wir sie!
Bevor wir allerdings zu diesen Momenten kommen, gilt es erst, das durchaus umfangreiche Rahmenprogramm zu absolvieren. Im Gegensatz zur letzten Ansetzung, als man unter der Flagge „Worlds Collide“ gleich im Doppelpack mit Amy Lee und der Truppe, die gerade als Evanescence segelt, vorbeischaute, nehmen Within Temptation gleich zwei Supportbands mit an Bord, die beide für sich genommen durchaus spannend sind. Das Paket reicht offenbar hin, um das Zenith heute Abend bis an den Rand zu füllen: „Danke für eine ausverkaufte Show!“, klebt es da vielsagend an der Abendkasse. Dementsprechend sind organisatorische Vorkehrungen getroffen, im vorderen Drittel ist ein Wellenbrecher aufgebaut, was im Zenith stets für volle Hütte spricht. Wir schlüpfen noch erfolgreich nach vorne durch und harren der Dinge, die da kommen.
Schlag 20 Uhr geht es dann los mit einer Mischung aus Konzert und politischer Veranstaltung: der Vierer Blind8 stammt nämlich aus der Ukraine und macht aus der Situation in der Heimat keine Sekunde lang einen Hehl. „We are here to support our country!“, ruft uns der Fronter zu, während sich die Kombo mit einer wilden Variante von Linkin Park und anderen moderneren Spielarten wie die Landsleute von Jinjer ins Zeug legt. Alsbald gesellt sich in Gestalt von Alex Yarmak ein zweiter Shouter hinzu, der insbesondere die growls übernimmt und später – wir greifen vor – nochmals einen Auftritt haben soll. Zwischenzeitlich verweist man auf den QR-Code, der eingeblendet ist und ruft zu Spenden für die gebeutelte Heimat auf. Wir wünschen nur das Beste, nach 20 Minuten endet die wilde Sause schon wieder, aber einen Eindruck haben sie in jedem Falle hinterlassen.
Kurze Umbaupause, dann flimmern schon wieder die Video-Leinwände, und um halb neun springen dann die durchaus angesagten Annisokay auf die Bretter, wo sie einen brachialen Soundteppich mit den in der Hüpfburg-Szene bestens bekannten Zutaten Riff-Attacken, Breakdowns und fliegendem Wechsel zwischen Clean und Scream hinlegen. Ob die heute offenkundig verhinderte Ann wirklich ok ist, das entzieht sich unserer Kenntnis – wir wissen aber: Mit Nummern wie „Into the Abyss“ und „Ultraviolet“ hauen sie ordentlich ins Kontor und stellen dann gut gelaunt fest: „Hi, wir sind Annisokay aus Halle an der Saale! Habt Ihr eine gute Zeit?“ Das bejahen wir mal, Fronter Rudi Schwarzer gibt wirkungsvoll den Impresario, der durch die durchaus beachtlichen Cleangesangseinlagen seines Gitarreros Christoph Wieczorek fulminant unterstützt wird. Zum nun folgenden Stück „Like A Parasite“ dürfen die Jungs einen Ehrengast begrüßen: niemand anders als die hier noch eher in Freizeitkleidung auftretende Sharon den Adel unterstützt die Darbietung stimmgewaltig und verabschiedet sich mit einem gut gelaunten „See you later!“ Na, das wollen wir ja mal massiv hoffen. An die „gute alte Nu Metal Zeit“ will man nun erinnern, mit einer Verbeugung vor einer Kombo, die die Herrschaften auskunftsgemäß stark beeinflusst hat: „One Step Closer“ von Linkin Park ballert ordentlich, aber so richtig meine Tasse Tee wird der Neumetall wohl nie werden. Man schwingt sich weiter durchs Programm, untermalt von Bildmaterial und Textzeilen auf den Videobildschirmwürfeln, bis dann „STFU“ (ausgesprochen: Shut the fuck up) einen ruppig-effektiven Schlusspunkt unter eine wilde halbe Stunde setzt, die mehr als „ok“ geht.
Man bastelt nun weiter um, die Bühne scheint eher kärglich mit Requisiten versehen: einige im gotischen Stil gehaltene Säulen stehen da eher unverbunden und könnten mit etwas Imagination den Eindruck einer Kathedrale erwecken – aber wir lassen uns überraschen, was man da alles inszeniert. Auf dem großen Video-Backdrop werden wir einstweilen informiert, dass man jedes Konzert der Tournee als CD-Bootleg erwerben kann, was ja auch Metallica schon für ihre M72-Shows im Merchandise-Programm hatten. Dann geht der Jahrmarkt der Impressionen um ziemlich genau 21:30 über die Startlinie: die gesamte hinter Bühne und die Seiten erstrahlen plötzlich als digitale Leinwand und zaubern einen Gesamteindruck, der fast schon cineastische Züge hat. Zu einem getragenen Intro sehen wir da einen Feuerkorb, dann einen Rittersmann, der das Schwert schwingt – und los geht die orchestrale Reise mit einem fulminanten „We Go To War“, das einen wahrlichen Reigen vom aktuellen Longplayer „Bleed Out“ einläutet. Untermalt von einer atmosphärischen Inszenierung, kommt das Stück blitzsauber und mächtig – aber seien wir doch mal ehrlich, die Frage ist doch eher: wann und wie erscheint die Dame. Das tut sie dann alsbald und spaziert mit dem eingangs schon skizzierten Ballkleid herein, dazu noch eine der fein ziselierten Masken, die man im Vorfeld auf den einschlägigen sozialen Medien schon vorgeführt hatte. Die folgenden Nummern bieten dann einen echten Bleed-Out-Block: der Titeltrack (Sharon mittlerweile ohne Maske) erscheint blutrot getränkt, beim „Ritual“ groovt und swingt die Dame gewohnt graziös, bevor sich dann zu „Shed My Skin“ Annis Kumpel Christoph Wieczorek nochmals auf die Bretter begibt und die Duett-Parts treffsicher mit Frau den Adel schmettert.
Die Kombo zeigt sich einstweilen mehr als tight, die Gitarrenfraktion mit Stefan Helleblad (der seit 2011 auf der Bühne die Dienste von Bandgründer und Studiomastermind Robert Westerholt versieht) und Ruud Adrianus Jolie steht wie eine Eins, Tieftöner Jeroen van Veen zupft gewohnt bewährt. Nach „Wireless“ lassen sie dann endgültig vom neuen Album ab und hauen eine wahrhaftig mächtige Fassung des Resist-Openers „The Reckoning“ heraus, das (untermalt vom zugehörigen Video) gnadenlos daherstampft und wie alles neuere Material deutlich klarer und transparenter als auf Konserve donnert, wo bei den letzten beiden Alben die Soundabmischung bisweilen ja etwas unklar geriet. Die Chance auf ein weiteres Duett nutzt man nicht, die Parts von Papa Roach-Shouter Jacoby Shaddix übernimmt heute Sharon kurzerhand selbst. Jetzt wendet sich die göttliche Sharon an uns, begrüßt uns in der ihr eigenen Höflichkeit und lässt uns dann wissen, dass beim Meet&Greet auch heute wieder Fans aus aller Herren (und Frauen) Länder vorbeikamen, dass man sich hier und heute friedlich und mit Respekt versammelt habe – das wäre doch sicherlich auch eine gute Idee für das generelle Leben.
Das meinen wir doch auch! Ganz düster wird es nun bei der seinerzeit Comic-begleiteten Mär The Unforgiving: der Opener „A Shot In The Dark“ erstrahlt nebst bewegtem Zeichen-Backdrop (im Original von Witchblade-Stiftschwinger Romano Molenaar) in vollem, für mich besonders bedeutungsschweren Glanz. Zum Pro 7-Hit „Stand My Ground“ erscheint die Bühne dann vollends in Blau getaucht, wie die Silent Force-Scheibe eben, bevor Sharon dann den nächsten Gast auf die Bühne holt: die aktuelle Single „A Fool’s Parade“ behandle, so informiert sie uns vorab, die schalen Schauaufzüge diverser Potentaten – wozu dann Alex Yamak von Blind8 nochmals mehr als überzeugend seinen vokalistischen Beitrag leistet. Man bittet nochmals um Spenden für die Heimat, auf deren prekäre Lage der gute Alex mehrfach hinweist. Mit „The Promise“ tauchen wir dann ein in die sehr orchestral-progressiven Anfangstage, ein mächtiges, ganz im Geiste der Mother Earth-Platte in Grün gehaltener Ausritt, bei dem Sharon ihre opernhafte Stimmgewalt eindrucksvoll unter Beweis stellt. Ein wahrlich wuchtiges Epos! Die wunderbare „Supernova“ widmet Sharon dann ihrem verstorbenen Vater und allen Anwesenden, die eine liebe Person verloren haben, die doch irgendwie immer noch da ist, wie ein Stern am Himmel eben – wunderschön. Das ebenso epische „Angels“ funktioniert wie immer bestens, bei „What About Us“ legen sie vom Tempo her einen Zacken zu, während Sharon das Duett (auf Scheiblette mit der nicht weniger göttlichen Tarja) wieder alleine schmeißt. Den furiosen Schlusspunkt des regulären Sets liefert dann ein treibendes „Faster“ (Unforgiving, Comics, wie erwähnt), zu dem Sharon die Menge nochmal ordentlich einpeitscht – aber nur, um wieder sehr zuvorkommend in fast perfektem Deutsch zu betonen: „So ein schönes Abend!“ Da stimmen wir unumwunden zu und freuen uns auf die Dreingabe, die dann mit dem mächtigen „Our Solemn Hour“ (eingeleitet mit Herrn Churchills erster Rede ans Volk, wo er diese Formulierung gebrauchte) losprescht. Schön getragen wird es dann nochmal bei „All I Need“, bevor dann die wunderbar-epische Hommage an die weibliche Energie „Mother Earth“ den feierlichen, mit Ausdruckstanz und Frauenmystik untermalten Höhe- und Endpunkt setzt. Wir sind vollumfänglich entzückt und nehmen auch noch erfreut zur Kenntnis, dass man im Zenith auch die Seitentüren öffnen kann. Das nehmen wir gerne wahr und wandern enthusiasmiert in die Nachtluft – und sind nur ein ganz klein wenig betrübt, dass die wunderbare „Ice Queen“ zu Hause bleiben musste. Nächstes Mal ist sie wieder dabei – versprochen!